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Das Kriegsende verbrachte Heinrich Böll, der von den Truppen desertiert war, in Much, genauer : in Marienfeld und Neßhoven. Seit dem November 2007 - Bölls wohl schönstes Werk, "Das irische Tagebuch", wurde 50 Jahre alt - erhalten die Mucher Böll-Tage mit einer angeschlossenen Wanderung das Andenken an den Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger lebendig. Kühl und windig, aber bei weitem nicht so kalt und lebensfeindlich wie im letzten Kriegswinter, zeigte sich das Wetter auf der diesjährigen Wanderung auf den Spuren Heinrich Bölls. Abgeschreckt durch den Schnee des vorangegangenen Wochenendes, hatte sich am Samstagmittag, dem 29. November, nur ein überschaubares Grüppchen Böll-Wanderer in Berghausen eingefunden.
Über Nebenstraßen und Wirtschaftswege ging es unter Führung von Monika Leifert zunächst nach Marienfeld zum "Pfarrsälchen", wo der desertierte Heinrich Böll und seine Familie den Kriegswinter 1944-45 verbrachten. An den jeweiligen Böll-Stationen gesellte sich der Lyriker Arnold Leifert dazu, der sonst die literarischen Wanderungen führt, aber diesmal aus gesundheitlichen Gründen nicht mitlaufen konnte. Er erläuterte die damalige Situation anhand der verfügbaren Quellen. Dies sind immer wieder Briefe, die Böll wegen des damals herrschenden Papiermangels auf Zeitungsrändern, Toilettenpapier oder Papiertüten schrieb. Außerdem finden sich viele Informationen in dem Buch "Briefe an meine Söhne", das Böll erst im Alter verfasste.
An diesen Stationen wurde die für viele abstrakte Literatenfigur Böll ein Mensch aus Fleisch und Blut, der hungerte und zitterte und in seinem Öfchen im Laufe des Winters etliche der auf dem Dachboden gelagerten hölzernen Prozessionsfiguren verheizte - verheizen musste, damit seine Familie nicht erfror. Darüber hinaus erhielt man einen Einblick in die Nöte und Freuden der Forschung, die anhand von Bölls Niederschriften und Zeitzeugen versucht, Lebensumstände und Details zu rekonstruieren. Manches ist nicht eindeutig beschrieben, deshalb streitet sich die Zunft beispielsweise darum, ob die Böll-Familie nun direkt im Pfarrsälchen oder auf dem Dachboden überwinterte. Vor Ort sieht man, dass nur Ersteres möglich war. Heute ist ein Schreibwarenladen in dem kleinen Fachwerkhaus untergebracht; eine Bronzetafel verweist auf den berühmten Gast.
Geradeaus weiter durch Marienfeld ging es nach Neßhoven. Vor allem zur Linken wurde das Wandergrüppchen mit einer umwerfenden Aussicht verwöhnt. Neßhoven war die zweite Mucher Unterkunft. Hier erlebte das Ehepaar Böll das Kriegsende und die Zeit danach, hier bekam es seinen ersten Sohn Christoph, der nur wenige Monate lebte und auf dem Marienfelder Friedhof begraben wurde. Annemarie und Heinrich Böll waren in dieser Zeit auf dem Hof der Familie Franken untergebracht. Josef Franken, damals vierjährig, kann sich noch vage an das Ehepaar Böll erinnern.
Die Wanderer wurden von Monika und Josef Franken willkommen geheißen, und wieder waren es Anekdoten und alte Fotos, die eine ungefähre Vorstellung der damaligen Zeit schufen. In der Scheune waren Tische und Bänke aufgebaut; es gab gute heiße Suppe, und Frau Franken spendierte hinterher einen Kaffee. Waren unterwegs schon angeregte Gespräche unter den Teilnehmern entstanden, so entwickelte sich bei Imbiss und Kaffee eine Diskussion über Bölls Desertation und seine Position als sowohl streitbarer wie umstrittener Nachkriegsautor.
Auf dem Rückweg besuchte die Gruppe den Friedhof von Marienfeld. Wie zwei kleine Inseln, außerhalb der geordneten Gräberreihen, liegen das Grab des erstgeborenen Böll-Sohnes und ein weiteres Kindergrab mit kyrillscher Inschrift auf dem Friedhof - des Kindes einer russischen Zwangsarbeiterin, wie Arnold Leifert vermutet. Wie an jeder Station der Böll-Wanderung gab es auch hier einen Rückblick. Berichtet wurde von Heinrich Böll, der ganz allein mit dem Kindersarg unter dem Arm zum Friedhof geht, von Besuchen Annemarie und Heinrich Bölls nach dem Krieg, von der Verschlossenheit Bölls, wenn es um familiäre Dinge ging. Auch gab es die überraschende Geschichte zu hören um das ebenso schöne wie rätselhafte Mosaik, das das kleine Grab schmückt. Bei seinen Recherchen fand Arnold Leifert heraus, dass das kunstvoll stilisierte Bildnis eines Lamms in ganz ähnlicher Form in der Kathedrale von Werl zu sehen ist und offenbar von der gleichen Künstlerin geschaffen wurde.
Kurz hinter Marienfeld, im Dörfchen Berzbach, hatte Annemarie Böll täglich zwei Liter Milch auf dem Hof des Bauern Peters geholt, der zur Armenstiftung Ehrenstein gehörte. Diese Milch stellte täglich die einzige sichere Mahlzeit der Familie Böll dar. Unsicher, hingegen, war der Weg zum Bauernhof : war für den Deserteur Böll sowieso jede öffentliche Präsenz gefährlich, rettete Annemarie Böll ihr Leben oft nur mit einem Sprung in den Straßengraben, wenn feindliche Flieger nahten.
Von Berzbach aus ging die Gruppe auf kleinen Nebenwegen, die wohl auch Böll in Richtung Much genommen hatte, zurück nach Berghausen, wo man sich bei Kaffee und Kuchen zum Kamingespräch einfand. Arnold Leifert las Textstellen, die sich auf die besuchten Örtlichkeiten beziehen; es blieb anschließend Zeit für Fragen und Diskussionen. Die Wanderung auf den Spuren Bölls findet alljährlich im Rahmen der Mucher Böll-Tage Ende November statt. Termine zu zukünftigen literarischen Wanderungen finden Sie unter www.lyrikweg.de. (ub)